Behindertensport Wie sich Anja Adler zurückgekämpft hat

10. September 2017

Halle (Saale) –

Den holprigen Weg hinunter bis fast ran an das Wasser lässt sich Anja Adler fahren. Mit dem Auto einer Trainingsgefährtin. Dabei sind die Umkleideräume vom Bootssteg am Osendorfer See nur einen Steinwurf weit entfernt. Die letzten Meter zum Kajak schafft die Kanutin unter größten Anstrengungen allein – mit ihren beiden Gehhilfen. „Für mich ist Laufen Leistungssport“, sagt die 28-Jährige später ganz pragmatisch.

Allerdings ganz anders als früher. Also zu jener Zeit, als sie das Laufen nahezu in Perfektion beherrscht hat – besser gesagt das Gehen. Denn bis 2015 gehörte die Hallenserin zu den schnellsten deutschen Frauen in dieser olympischen Leichtathletik-Disziplin. Doch ein schrecklicher Unfall hat sie jäh gestoppt.

Die Promotionsstudentin für Geologie war, wie sie erzählt, bei ihren Höhlenforschungen in einem alten Bergwerk im Südharz 15 Meter tief in einen Schacht gestürzt: inkomplette Querschnittslähmung. Ein Schock damals, zweifellos, für sie und ihre Familie.

Anja Adler hält es mit Mark Twain

Die Anja Adler von heute hat sich mit den außergewöhnlichen Lebensumständen arrangiert. „Gib jedem Tag die Chance, der beste deines Lebens zu werden. Das hat der Schriftsteller Mark Twain mal gesagt, und das versuche ich nun, täglich zu beherzigen“, sagt sie. Schon vor diesem Tag im Mai 2015, der ihrem Leben eine völlig neue Richtung gab, hat sie die Worte des Schriftstellers zu ihrer Lebensmaxime auserkoren. Sich daran auch in schweren Zeiten zu orientieren, das musste sie jedoch erst lernen.

Natürlich, so sagt die Hallenserin, sei sie anfangs zuversichtlich gewesen, dass alles so wird wie früher. „Man kennt das ja aus dem Fernsehen, der Fernsehdoktor operiert dich, irgendwann wackelst du mit dem großen Zeh und alle sind glücklich.“ Das wahre Leben aber sieht anders aus. Anja Adler wird immer auf den Rollstuhl angewiesen sein. Und auf Hilfe im Alltag. Betten beziehen, den Kühlschrank einräumen, Wäsche aufhängen – „die früher so einfachen Dinge im Haushalt sind nun eine große Herausforderung. Ich bin froh, dass mir da meist jemand mit zur Hand geht“, gibt die junge Frau zu.

Treppensteigen? Das funktioniert zu Hause am besten, wenn sie auf dem Hosenboden Stufe für Stufe nimmt. Und den frisch gebrühten Kaffee am Morgen bringt sie nun ganz langsam zum Frühstückstisch. Mit der einen Hand bewegt sie den Rolli, mit der anderen hält sie die nicht ganz volle Tasse so ruhig es geht. Und muss zwischendurch immer mal wechseln.

Hilfe von Eltern und Großeltern

Vieles hat Anja Adler dazugelernt, ein gewisses Geschick entwickelt. Und der Kopf? „Wann die letzte Depri-Phase gewesen war“, sagt sie, „weiß ich gar nicht mehr“. Das verdankt sie auch ihrer Familie. Die Eltern haben seinerzeit schnell reagiert. Sind in ihrem gemeinsamen Haus nach oben gezogen und haben ihr die untere Etage behindertengerecht umgebaut, „ohne dass man das sieht, ein richtiges kleines Paradies haben wir jetzt“, schwärmt Anja Adler von ihrem privaten Rückzugsgebiet.

Und ihr hat es geholfen, sagt sie, dass Vater und Mutter so unglaublich stark waren. Trotzdem haben sie ihre wahren Gefühle nie unterdrückt. Stärke demonstrieren zu wollen, wenn einem eigentlich nach Heulen ist, das bringt nichts, weiß Anja Adler aus Erfahrung.

Nicht weniger wichtig sind für sie die Großeltern. „Früher war ich für sie da. Jetzt sind sie es für mich und irgendwann einmal werde ich es wieder für sie sein“, sagt die Enkelin. Der Opa, erzählt sie, übernimmt oft den Fahrdienst – erst in ein paar Wochen kriegt Anja Adler ein Auto mit Hand-Gas.

Kontakt zu ihren Rettern

Dass ihre Rettung damals so schnell geklappt hat und sie nur vier, fünf Stunden später schon im Krankenhaus in Nordhausen auf dem OP-Tisch lag, hat ihr einige Restfunktionen unterhalb des gebrochenen Lendenwirbels bewahrt. „Die Leute, die mir damals geholfen haben, waren ganz fantastisch“, sagt Anja Adler. Die Höhenretter, der Notarzt, der sich zu ihr abseilen musste, das medizinische Personal später auch im halleschen Bergmannstrost – jener Klinik, in der sie auf ihr neues Leben vorbereitet wurde. Noch heute hat sie zu einigen Kontakt.

Meistern muss sie ihr Schicksal allein. Alleingelassen hat sie sich allerdings nie gefühlt. Auch ihre Freunde waren für sie da, erzählt Anja Adler, haben sie während der Monate im Krankenhaus jeden Donnerstag besucht. Auch wenn der Ort sich mittlerweile geändert hat, so ist der „Anja-Donnerstag“ doch geblieben. Auf den freut sie sich Woche für Woche.

Geholfen haben aber auch ihre gute Grundmuskulatur sowie die durch den Leistungssport ausgeprägten Charakterzüge. Den Drang, sich bewegen zu wollen, hat sich die frühere Leichtathletin bewahrt. Ebenso den Willen, die eigenen Grenzen auszutesten. „Man muss ein Ziel vor Augen haben“, sagt sie. So war und ist noch immer ihre Einstellung. Noch während ihres Klinikaufenthaltes im Sommer 2015 hat sich Anja Adler ein gänzlich neues Ziel gesetzt: sich im Parakanu auszuprobieren. Mathias Neubert aus dem Vorstand des Halleschen Kanuklubs 54 arbeitet im Bergmannstrost. Der Physiotherapeut hatte die Neugier der Patientin wecken können. Gut, dass sie gleich in der ersten Übungsstunde geadelt worden ist. Ein Steppke aus dem Verein habe nach ihrer Jungfernfahrt voller Begeisterung gerufen: „Die ist ja nicht einmal reingefallen.“ „Das hat mich unglaublich angespornt“, sagt Anja Adler.

In den letzten Monaten hat sie als Parakanutin eine erstaunliche Entwicklung genommen. Ihr Ziel für dieses Jahr, es in die Nationalmannschaft zu schaffen, hat sie erreicht. Und nicht nur das. Bei der WM im tschechischen Račice gewann sie die Silbermedaille. Glauben kann sie das immer noch nicht so recht.

Anja Adler ist auf Jobsuche

Die Welt erscheint Anja Adler also gerade wie ein Rausch. Und doch wird sie der Alltag schnell wieder einholen. Wenn die Hallenserin ihre Doktorarbeit fertig haben wird im nächsten Jahr, braucht sie einen Job. Wer wird sie einstellen, eine Geologin, die für große Wettkämpfe trainiert und dazu noch behindert ist? In vielen Ausschreibungen wird die körperliche Eignung für das Gelände geradezu eingefordert.

Doch auch hier wird sie den Kopf nicht in den Sand stecken und kämpfen. Die Kraft dafür holt sie sich auch bei ihren nahezu täglichen Ausfahrten im Boot. „Da hinten in die Bucht zu fahren“, sagt sie und zeigt mit dem Paddel an das andere Ende des idyllisch gelegenen Sees, „das Vogelgezwitscher zu hören, die Natur zu erleben und dann mit der Bootsspitze das Spiegelbild auf dem Wasser zu durchschneiden – für mich gibt es nichts Schöneres.“

Anja Adler, das spürt man, ist mit sich und der Welt im Reinen.

– Quelle: http://www.mz-web.de/28380198 ©2017

 

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