MZ: Von Null auf Hundert bis nach Rio

13. September 2016

Rio/Halle (Saale) –

Die Worte von Ivo Kilian überraschen – doch nur im ersten Moment. „Ich sehe mich nicht als behindert an“, sagt der 39-Jährige, dem von Geburt an beide Beine fehlen. Unter der Trainingshose, die er nach zwei Stunden Paddeln auf dem Osendorfer See angezogen hat, trägt er zwei Prothesen.

Spätestens wenn man ihn schnellen Schrittes herüberkommen sieht aus den Umkleideräumen seines Halleschen Kanuclubs 54 zu den Sitzbänken, nimmt man Ivo Kilian ab, wenn er erklärt: „Ich habe keine wesentlichen Beeinträchtigungen. Klar, Fußball-Profi werde ich nicht mehr und Sprinter wohl auch nicht, aber sonst?!“ Die Welt, das hat der Sport Ivo Kilian wieder einmal bestätigt, steht ihm offen.

Erst seit zweieinhalb Jahren dabei

Nun startet der Mann aus der kleinen 260-Seelengemeinde Hübitz bei Eisleben sogar bei den Paralympischen Spielen in Rio. Dabei hat er bis vor zweieinhalb Jahren nicht einmal von seinem außergewöhnlichen Talent gewusst. Von dem Wassergefühl, das man sich nicht antrainieren kann, wie Kilians Trainer Ronny Waßmuth sagt. „Entweder man hat es, oder man hat es nicht. Und Ivo hat es. Er spürt den Abtrieb am Blatt, so etwas kann man nicht lernen.“ Der Bruder der Kanu-Olympiasiegerin von 2008, Conny Waßmuth, spielt damit auf Kilians geschickte Handhabe des Paddels an.

Im März 2014 hat der alleinerziehende Vater überhaupt erst sein Faible für das schnelle Kanufahren entdeckt. Sohn Keanu und Tochter Scully – heute 18 und 19 – waren damals schon weitgehend selbstständig. Der Wunsch des IT-Systemtechnikers, wieder mehr für seine Fitness zu tun – als Ausgleich zu den vielen Stunden im Auto und Büro – führte ihn in die Bergmannstrost-Klinik in Halle. Dort gab es das Angebot, sich im hauseigenen Schwimmbad mal in ein Kanu zu setzen. Zwei Wochen später war er schon auf dem Hufeisensee in Halle. Ohne die ihm so vertrauten Prothesen, festgeschnallt auf einem Bootssitz. Es hat auf Anhieb gepasst. „Danach ging alles wahnsinnig schnell“, sagt Kilian, „manchmal war das sogar mir zu schnell“. Was als Hobby anfing, endet im Leistungssport mit zuletzt bis zu 15 Stunden Training die Woche.

Die Auswahl-Norm schaffte er schon beim ersten Sichtungswettkampf. Danach kamen EM (6.) und WM (9.). Die ersten Zehn, hieß es, dürfen nach Rio. Und selbst als nach einem Jahr überraschend festgelegt wurde, dass seine Bootsklasse mit Ausleger – oder „Stützräder“, wie Ivo Kilian sagt – nun doch nicht paralympisch wird, da steckte der Senkrechtstarter nicht auf. „Dann versuche ich es eben im Kajak“, beschreibt Ivo Kilian seine Reaktion. In diesem ist es viel schwieriger, die Balance zu halten. „Ivo ist unglaublich ehrgeizig und lässt sich von Rückschlägen nicht entmutigen“, bestätigt sein Trainer.

Hilfe zur Selbsthilfe

Diese starke Psyche Kilians ist neben dem Talent ein weiterer Grundpfeiler seines Erfolges. Die mentale Stärke will er allerdings nicht darauf reduziert wissen, dass er ja nie ein Leben mit Beinen kennengelernt hat. Seine Familie, also die Eltern und älteren Geschwister, so erzählt er, haben ihn von Anfang an zur Selbstständigkeit erzogen, statt die Hand schützend über ihn zu halten. „Wollte ich mit meinen Freunden ins Freibad, musste ich mit ihnen Fahrradfahren. Geholfen hat man mir dabei, das Rad umzubauen.“ Hilfe zur Selbsthilfe.

Fragt sich Ivo Kilian manchmal, was sportlich möglich gewesen wäre, wenn er zwei gesunde Beine hätte? Er schüttelt den Kopf. Auch seine späte Entdeckung verleitet ihn nicht zu solchen Gedankenspielen. Beruf und Familie hätten früher eine solch zeitintensive Freizeitbeschäftigung nicht zugelassen. Und ihm bleibt noch Zeit, er hat nicht vor, nach Rio aufzuhören. Selbst wenn er sich mal nicht mehr qualifiziert für Großereignisse, weil andere besser sind, wird weitergepaddelt, „dann mache ich das für mich“. Hinschmeißen kommt für Ivo Kilian nicht in Frage.

Parakanute Ivo Kilian startet am heutigen Mittwoch, 14.30 Uhr MESZ, im Vorlauf über 200 Meter Kajak. (mz)

– Quelle: http://www.mz-web.de/24740468 ©2016

Foto: MZ- Eckehard Schulz

 

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