60 Jahre Kanu-Rennsport am Osendorfer See

1. April 2014

Die Kanuten feiern den Geburtstag fernab von ihrem angestammten Quartier

 

Es war wohl mehr dem Zufall bzw. dem Einfallsreichtum findiger Innovatoren ĂŒberlassen, wie die aus dem ehemaligen Braunkohlentagebau „Hermine Henriette I“ entstandene WasserflĂ€che samt ihrer Umgebung einer sinnvollen Nutzung zugefĂŒhrt werden konnte. Döllnitzer Wassersportfreunde nahmen sich ihrer unter der Leitung von Karl Kunitzsch an. Der 1923 gegrĂŒndete Kanuclub Döllnitz, auf dessen wechselhafte Geschichte hier nicht eingegangen werden kann, begann nach dem Ende des 2. Weltkrieges mit der Organisation von Wanderfahrten. Daneben forcierte Karl Kunitzsch, der mittlerweile zum Sektionsleiter des Vereins gewĂ€hlt worden war, das Rennsporttraining. Er besaß seit 1948 ein Patent als Übungsleiter und bereitete die Döllnitzer Renn-Kanuten systematisch auf Starts vor, so dass diese ab 1952 erstmals wieder eine Rennsaison erfolgreich bestreiten konnten. Insgeheim liebĂ€ugelte er jedoch mit dem Aufbau einer SportstĂ€tte, die nicht nur fĂŒr Trainings-, sondern auch fĂŒr Wettkampfzwecke genutzt werden konnte. Der in der NĂ€he von Döllnitz gelegene Osendorfer See schien ihm geradezu prĂ€destiniert fĂŒr ein solches Vorhaben zu sein. Die weitgehend windgeschĂŒtzte Lage und die gĂŒnstigeren Trainingsbedingungen auf einem strömungsfreien See, bewogen ihn, hier sesshaft zu werden. Die GesamtlĂ€nge des Sees betrĂ€gt 1500 Meter, seine breiteste Stelle 280 Meter. Im Gesamtdurchschnitt ist der See 12,5 Meter tief (Maximaltiefe 16,5 Meter). Die WasserflĂ€che nimmt ca. 17,8 Hektar ein. Im FrĂŒhjahr 1953 zog Karl Kunitzsch mit acht Döllnitzer Kanuten und einem Boot per Handwagen zum See und tĂ€tigte hier sozusagen den ersten Spatenstich zur Errichtung eines neuen Sportkomplexes. Am 1. April 1953 erfolgte der Anschluss der Rennkanuten an die Betriebssportgemeinschaft „Aktivist Halle-SĂŒd“ als Sektion Kanu.

Mit dem Ausbau zur TrainingsstĂ€tte einher gingen Arbeiten zur Uferbefestigung des Sees. Bereits 1954 wurde damit begonnen, die HĂ€nge der ehemaligen Grube mit Birken und Pappeln, spĂ€ter auch mit Kiefern und Robinien zu bepflanzen, um so Erosionserscheinungen vorzubeugen. Hinzu kamen umfangreiche Erdarbeiten (Einebnungen, Einbringung von Drainagen etc.), um die Voraussetzungen zum Bau von SportgebĂ€uden zu schaffen. Dabei wurde von Beginn an seitens der Vereinsleitung Wert darauf gelegt, dass der Ausbau der SportstĂ€tte und das sportliche Training im Einklang mit dem natĂŒrlichen Umfeld zu stehen hatte.

Bereits im August 1954, also im GrĂŒndungsjahr des Vereins, fand auf dem See eine erste Kanuregatta statt. Ihr folgten DDR-Jugendmeisterschaften in den Jahren 1957 und 1958. Zum Programm der Vereinsinitiativen gehörten ferner die alljĂ€hrliche Ausrichtung von Meisterschaften des Bezirkes Halle, von Kinder- und Jugendspartakiaden der Stadt und des Bezirks Halle. Im Mai 1966 wurde die Hallesche FrĂŒhjahrsregatta ins Leben gerufen, die als Saisoneröffnung des mitteldeutschen Kanu-Rennsports auf der langen Strecke sich großer Beliebtheit erfreut. Hinzu kam zwei Jahre spĂ€ter die Herbstregatta auf der langen Strecke, die ebenfalls einen Dauerplatz im halleschen Regatta-Programm erhielt.

Im Jahr 1975 allerdings standen die Kanuten vor einem ernsthaften Problem: Die zustĂ€ndige Bergbauschutzbehörde stellte die Alternative, den Osendorfer See aus SicherheitsgrĂŒnden völlig zu fluten oder das gesamte GelĂ€nde so zu sanieren, dass Sport hier gefahrlos betrieben werden konnte. Diese Forderung war durchaus akzeptabel. Im Zusammenhang mit den Bergbauarbeiten wurde die Grundwassersituation der Region erheblich gestört. Zur Stabilisierung der Böschungen und des ökologischen Gleichgewichtes machte sich eine Wasserhaltung erforderlich, die den Wasserspiegel auf +74 Meter NN hĂ€lt. Mittels einer Pumpanlage musste, da der See keine Verbindung zu FließgewĂ€ssern besitzt, das ĂŒberschĂŒssige Wasser, herrĂŒhrend von NiederschlĂ€gen und GrundwasserabflĂŒssen, kontinuierlich in die nahegelegene Reide eingeleitet werden.

Die Existenz der Sportanlage war also ernsthaft in Frage gestellt worden. Karl Kunitzsch erarbeitete zusammen mit Mitgliedern und Freunden des Vereins eine tragfĂ€hige Konzeption zur Sanierung des GelĂ€ndes, die in zahllosen Verhandlungen mit den zustĂ€ndigen Behörden durchgesetzt und so der Erhalt der SportstĂ€tte gesichert werden konnte. Das hieß, dass die, trotz der Bepflanzungsmaßnahmen, weiterhin von Erosion bedrohten UferhĂ€nge standsicher gemacht und noch bestehende Stollen verfĂŒllt werden mussten. Außerdem gelang es dem Verein, der alljĂ€hrlich eine betrĂ€chtliche Anzahl von Spitzenathleten aus seinen Reihen hervorgebracht hatte, den „Deutschen Turn- und Sportbund“ der DDR fĂŒr den Ausbau der Regattastrecke auf höchstem Niveau zu interessieren. DafĂŒr sprach, neben der vorbildlichen Breiten- und Leistungssportarbeit des Vereins, die gĂŒnstige windgeschĂŒtzte Lage des Sees, die optimale RennverlĂ€ufe zuließ. Die Neugestaltung der Regattastrecke, die etwa sechs Jahre in Anspruch nahm, entsprach nunmehr den international ĂŒblichen Wettkampfbestimmungen im Kanu-Rennsport: Auf neun Bahnen mit je neun Metern Breite konnten jetzt Rennen ĂŒber 1000, 500 und 200 Metern gestartet werden. Der Uferbereich der SportstĂ€tte erhielt eine neue Befestigung, an der 17 Bootsstege installiert werden konnten. Im Zusammenhang mit den Baumaßnahmen erfolgte am 1. September 1975 ein Wechsel hinsichtlich der TrĂ€gerschaft der Rennsportsektion. Das „VEB Straßen-, BrĂŒcken- und Tiefbaukombinat Halle“ (SBTK), das, zusammen mit dem „VEB Braunkohlenkombinat Geiseltal“ fĂŒr die genannten Bauarbeiten verantwortlich zeichnete, ĂŒbernahm die erfolgreiche Sektion Kanu-Rennsport der BSG Aktivist Halle-SĂŒd. Sie wurde als BSG Aufbau Halle/SĂŒd beim SBTK neu gegrĂŒndet.

In den achtziger Jahren folgten Aufforstungen innerhalb der SportstĂ€tte, GrĂŒnflĂ€chen wurden angelegt und die Arbeiten an der Uferbefestigung gingen weiter. 1985 konnte ein modernisiertes GebĂ€ude mit einem Unterrichtsraum (ca. 100 SitzplĂ€tze), mit Toilettenanlagen sowie Arbeits- und WirtschaftsrĂ€umen ĂŒbergeben werden. Mit UnterstĂŒtzung des neuen TrĂ€gerbetriebes entstanden Straßen, SpielplĂ€tze, ein MehrzweckgebĂ€ude mit Krafthalle und eine KulturbĂŒhne mit StellflĂ€che. Zudem wurde am Sattelplatz ein Toilettenhaus fĂŒr die Teilnehmer der Kanuregatten gebaut.

Die ,Wende‘ des Jahres 1989 zeitigte auch VerĂ€nderungen im Betrieb der Sportanlage. Mit einem GelĂ€nde von 204 Hektar ging diese am 1. Mai 1990 in das Eigentum der Stadt Halle (Saale) ĂŒber und wird seitdem vom halleschen Sport- und BĂ€deramt verwaltet. Hauptnutzer und Gestalter der Anlage sind die Rennkanuten. Diese starteten nunmehr unter dem Vereinsnamen Hallescher Kanu-Club 54 e.V. (HKC). DarĂŒber hinaus bemĂŒhte sich der HKC zunehmend darum, die SportstĂ€tte zu einem Domizil des Breitensports werden zu lassen. Schulen fĂŒhren hier sportliche Veranstaltungen durch. Als besonders beliebt erweisen sich dabei Rennen in Drachenbooten, die zwanzig Personen Platz bieten und mittlerweile zu einem echten Volkssport geworden sind. Schulmeisterschaften im Drachenboot finden hier alljĂ€hrlich statt, außerdem der Drachenboot-Cup fĂŒr interessierte Volkssport-Teams und der Medi-Cup fĂŒr Teams aus den medizinischen Einrichtungen der Region.

In den letzten Jahren wurde der HKC 54 e.V. auch zur Heimstatt von Menschen mit geistigen und/oder körperlichen Behinderungen. Durch Eigenleistung seiner Mitglieder wurde die Anlage behindertengerecht und barrierefrei umgebaut. Ab 2012 erfolgte die Sanierung der Steg- und Uferanlagen – gefördert durch das Land Sachsen-Anhalt, Lotto/Toto und Eigenanteile des Vereins. Anerkennung fand der Verein mit der Ernennung zum Landes- bzw. BundesleistungsstĂŒtzpunkt Parakanu im Deutschen Kanu-Verband e.V. bzw. dem Landessportbund Sachsen-Anhalt. Ein wichtiger Bestandteil der Trainingsarbeit ist die Vorbereitung von Sportlern auf die Paralympic Games 2016 in Rio de Janeiro. Wir haben uns das Ziel gesetzt, mindestens ein Boot fĂŒr Olympia zu qualifizieren.

Außerdem finden sich die Triathleten vom SV Halle am See zum Schwimmtraining ein und veranstalten hier WettkĂ€mpfe. FeldbogenschĂŒtzen nutzen das GelĂ€nde und dessen Umgebung als TrainingsstĂ€tte.

Von den vielen Kanuten, die am Osendorfer See das Paddelhandwerk erlernt hatten und spĂ€ter fĂŒr die Nationalmannschaft der DDR bzw. der BRD erfolgreich starteten, seien hier nur jene erwĂ€hnt, die bei Olympischen Spielen oder bei Welt- bzw. Europameisterschaften Gold-Medaillen erringen konnten. Es sind dies Klaus Heinroth, Andreas StĂ€hle, Ines Rudolph, Christian Prange, Wiebke Pontzen und Conny Waßmuth. Andreas StĂ€hle wurde 1983, 1985 und 1986 Weltmeister im KI 1000m. 1990 holte er in der gleichen Disziplin Silber. 1988 errang er Silber im KIV.
Ines Rudolph wurde 1986 DDR-Meister im KIV und 1987 Weltmeister im KIV
Klaus Heinroth wurde 1967 und 1968 3. bei den DDR-Meisterschaften im KI 1000m und 1969 2. im KI 500m. 1968 wurde er im KII 1000m 8. bei Olympischen Spielen in Mexiko.

Conny Waßmuth wurde in Peking 2008 im K4 ĂŒber 500m Olympiasieger.

 

Da die Stadt Halle nach der Wende nicht in den ,Genuss‘ eines förderwĂŒrdigen OlympiastĂŒtzpunktes fĂŒr diese Sportart kam, werden auch weiterhin talentierte Nachwuchskanuten zu solchen in Magdeburg, Leipzig oder Potsdam delegiert. Doch auch von Halle aus treten Sportler zu internationalen WettkĂ€mpfen an. Goldmedaillen bei deutschen TitelkĂ€mpfen, bei Welt- und Europameisterschaften im Drachenboot-Sport konnte die Jugendmannschaft unter dem Namen „Kanu-Tigers“ erringen. Aus dem Nachwuchsbereich des HKC (im Alter von  8bis 14 Jahren) erringen alljĂ€hrlich junge Athleten Medaillen bei Landesmeisterschaften und werden auf Grund ihrer Erfolge in Landesmannschaften im Kanu-Rennsport eingesetzt. Ehemalige Rennkanuten haben im Seniorenbereich des Vereins eine HeimstĂ€tte gefunden und können hier ebenfalls auf internationale Erfolge verweisen. Goldmedaillen bei European bzw. World Master Games gewannen Elke Bergmann, Petra Kunitzsch, Helga Freund, Ina FĂŒlle, Irene Zappe, Hans-Joachim Kertscher, Hans-Jörg Bliesener und Falko Döbel.

Die letzte Großveranstaltung auf dem See fand Anfang Juni 2013 statt. Es handelte sich um das zweite bundesweite Wassersport-Schnuppercamp des Deutschen Rollstuhl-Sportverbandes e.V., das vom 31. Mai bis 2. Juni 2013 in Halle durchgefĂŒhrt wurde. 60 Wassersportinteressierte aus vielen Regionen Deutschlands fanden sich hier ein und absolvierten ein erlebnisreiches Programm. Möglicherweise trug der Titel der Veranstaltung ein böses Omen in sich. Am 2. Juni nĂ€mlich begann der Regen und mit ihm kam die Flut. Der nach dem Verlauf von zwei Flutwellen der Jahre 2010/11 oberhalb des Sees errichtete Schutzdamm hielt der Flut vom Juni 2013 nur etwa 4 Stunden stand, dann wurde er weggespĂŒlt. Das Wasser konnte sich ungehindert ĂŒber einen Abhang in den See ergießen. Der Wasserspiegel des Sees stieg in kurzer Zeit um ĂŒber 5 Meter. Der Flut fielen die Regattastrecke und sĂ€mtliche bauliche Anlagen im Uferbereich des Sees, einschließlich der Pumpenanlage, zum Opfer. Die Kanuten des HKC 54 e.V. standen vor einem Fiasko. Sie fanden eine einstweilige bescheidene Unterkunft am Hufeisensee, die ein systematisches Training nur bedingt zulĂ€sst. Eine RĂŒckkehr an den Osendorfer See, der mittlerweile abgepumpt wird, ist vor 2016 nicht zu erwarten. Sie können ihren 60. GrĂŒndungstag nicht am heimischen GewĂ€sser feiern, sind aber zuversichtlich, dass sie zumindest den 70. am Gestade des Osendorfer Sees begehen werden.

 

Autor:

 

Prof. Dr. Hans-Joachim Kertscher, PrÀsident Hallescher Kanu-Club 54 e.V.

 

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