Die Kanuten feiern den Geburtstag fernab von ihrem angestammten Quartier
Es war wohl mehr dem Zufall bzw. dem Einfallsreichtum findiger Innovatoren überlassen, wie die aus dem ehemaligen Braunkohlentagebau „Hermine Henriette I“ entstandene Wasserfläche samt ihrer Umgebung einer sinnvollen Nutzung zugeführt werden konnte. Döllnitzer Wassersportfreunde nahmen sich ihrer unter der Leitung von Karl Kunitzsch an. Der 1923 gegründete Kanuclub Döllnitz, auf dessen wechselhafte Geschichte hier nicht eingegangen werden kann, begann nach dem Ende des 2. Weltkrieges mit der Organisation von Wanderfahrten. Daneben forcierte Karl Kunitzsch, der mittlerweile zum Sektionsleiter des Vereins gewählt worden war, das Rennsporttraining. Er besaß seit 1948 ein Patent als Übungsleiter und bereitete die Döllnitzer Renn-Kanuten systematisch auf Starts vor, so dass diese ab 1952 erstmals wieder eine Rennsaison erfolgreich bestreiten konnten. Insgeheim liebäugelte er jedoch mit dem Aufbau einer Sportstätte, die nicht nur für Trainings-, sondern auch für Wettkampfzwecke genutzt werden konnte. Der in der Nähe von Döllnitz gelegene Osendorfer See schien ihm geradezu prädestiniert für ein solches Vorhaben zu sein. Die weitgehend windgeschützte Lage und die günstigeren Trainingsbedingungen auf einem strömungsfreien See, bewogen ihn, hier sesshaft zu werden. Die Gesamtlänge des Sees beträgt 1500 Meter, seine breiteste Stelle 280 Meter. Im Gesamtdurchschnitt ist der See 12,5 Meter tief (Maximaltiefe 16,5 Meter). Die Wasserfläche nimmt ca. 17,8 Hektar ein. Im Frühjahr 1953 zog Karl Kunitzsch mit acht Döllnitzer Kanuten und einem Boot per Handwagen zum See und tätigte hier sozusagen den ersten Spatenstich zur Errichtung eines neuen Sportkomplexes. Am 1. April 1953 erfolgte der Anschluss der Rennkanuten an die Betriebssportgemeinschaft „Aktivist Halle-Süd“ als Sektion Kanu.
Mit dem Ausbau zur Trainingsstätte einher gingen Arbeiten zur Uferbefestigung des Sees. Bereits 1954 wurde damit begonnen, die Hänge der ehemaligen Grube mit Birken und Pappeln, später auch mit Kiefern und Robinien zu bepflanzen, um so Erosionserscheinungen vorzubeugen. Hinzu kamen umfangreiche Erdarbeiten (Einebnungen, Einbringung von Drainagen etc.), um die Voraussetzungen zum Bau von Sportgebäuden zu schaffen. Dabei wurde von Beginn an seitens der Vereinsleitung Wert darauf gelegt, dass der Ausbau der Sportstätte und das sportliche Training im Einklang mit dem natürlichen Umfeld zu stehen hatte.
Bereits im August 1954, also im Gründungsjahr des Vereins, fand auf dem See eine erste Kanuregatta statt. Ihr folgten DDR-Jugendmeisterschaften in den Jahren 1957 und 1958. Zum Programm der Vereinsinitiativen gehörten ferner die alljährliche Ausrichtung von Meisterschaften des Bezirkes Halle, von Kinder- und Jugendspartakiaden der Stadt und des Bezirks Halle. Im Mai 1966 wurde die Hallesche Frühjahrsregatta ins Leben gerufen, die als Saisoneröffnung des mitteldeutschen Kanu-Rennsports auf der langen Strecke sich großer Beliebtheit erfreut. Hinzu kam zwei Jahre später die Herbstregatta auf der langen Strecke, die ebenfalls einen Dauerplatz im halleschen Regatta-Programm erhielt.
Im Jahr 1975 allerdings standen die Kanuten vor einem ernsthaften Problem: Die zuständige Bergbauschutzbehörde stellte die Alternative, den Osendorfer See aus Sicherheitsgründen völlig zu fluten oder das gesamte Gelände so zu sanieren, dass Sport hier gefahrlos betrieben werden konnte. Diese Forderung war durchaus akzeptabel. Im Zusammenhang mit den Bergbauarbeiten wurde die Grundwassersituation der Region erheblich gestört. Zur Stabilisierung der Böschungen und des ökologischen Gleichgewichtes machte sich eine Wasserhaltung erforderlich, die den Wasserspiegel auf +74 Meter NN hält. Mittels einer Pumpanlage musste, da der See keine Verbindung zu Fließgewässern besitzt, das überschüssige Wasser, herrührend von Niederschlägen und Grundwasserabflüssen, kontinuierlich in die nahegelegene Reide eingeleitet werden.
Die Existenz der Sportanlage war also ernsthaft in Frage gestellt worden. Karl Kunitzsch erarbeitete zusammen mit Mitgliedern und Freunden des Vereins eine tragfähige Konzeption zur Sanierung des Geländes, die in zahllosen Verhandlungen mit den zuständigen Behörden durchgesetzt und so der Erhalt der Sportstätte gesichert werden konnte. Das hieß, dass die, trotz der Bepflanzungsmaßnahmen, weiterhin von Erosion bedrohten Uferhänge standsicher gemacht und noch bestehende Stollen verfüllt werden mussten. Außerdem gelang es dem Verein, der alljährlich eine beträchtliche Anzahl von Spitzenathleten aus seinen Reihen hervorgebracht hatte, den „Deutschen Turn- und Sportbund“ der DDR für den Ausbau der Regattastrecke auf höchstem Niveau zu interessieren. Dafür sprach, neben der vorbildlichen Breiten- und Leistungssportarbeit des Vereins, die günstige windgeschützte Lage des Sees, die optimale Rennverläufe zuließ. Die Neugestaltung der Regattastrecke, die etwa sechs Jahre in Anspruch nahm, entsprach nunmehr den international üblichen Wettkampfbestimmungen im Kanu-Rennsport: Auf neun Bahnen mit je neun Metern Breite konnten jetzt Rennen über 1000, 500 und 200 Metern gestartet werden. Der Uferbereich der Sportstätte erhielt eine neue Befestigung, an der 17 Bootsstege installiert werden konnten. Im Zusammenhang mit den Baumaßnahmen erfolgte am 1. September 1975 ein Wechsel hinsichtlich der Trägerschaft der Rennsportsektion. Das „VEB Straßen-, Brücken- und Tiefbaukombinat Halle“ (SBTK), das, zusammen mit dem „VEB Braunkohlenkombinat Geiseltal“ für die genannten Bauarbeiten verantwortlich zeichnete, übernahm die erfolgreiche Sektion Kanu-Rennsport der BSG Aktivist Halle-Süd. Sie wurde als BSG Aufbau Halle/Süd beim SBTK neu gegründet.
In den achtziger Jahren folgten Aufforstungen innerhalb der Sportstätte, Grünflächen wurden angelegt und die Arbeiten an der Uferbefestigung gingen weiter. 1985 konnte ein modernisiertes Gebäude mit einem Unterrichtsraum (ca. 100 Sitzplätze), mit Toilettenanlagen sowie Arbeits- und Wirtschaftsräumen übergeben werden. Mit Unterstützung des neuen Trägerbetriebes entstanden Straßen, Spielplätze, ein Mehrzweckgebäude mit Krafthalle und eine Kulturbühne mit Stellfläche. Zudem wurde am Sattelplatz ein Toilettenhaus für die Teilnehmer der Kanuregatten gebaut.
Die ,Wende‘ des Jahres 1989 zeitigte auch Veränderungen im Betrieb der Sportanlage. Mit einem Gelände von 204 Hektar ging diese am 1. Mai 1990 in das Eigentum der Stadt Halle (Saale) über und wird seitdem vom halleschen Sport- und Bäderamt verwaltet. Hauptnutzer und Gestalter der Anlage sind die Rennkanuten. Diese starteten nunmehr unter dem Vereinsnamen Hallescher Kanu-Club 54 e.V. (HKC). Darüber hinaus bemühte sich der HKC zunehmend darum, die Sportstätte zu einem Domizil des Breitensports werden zu lassen. Schulen führen hier sportliche Veranstaltungen durch. Als besonders beliebt erweisen sich dabei Rennen in Drachenbooten, die zwanzig Personen Platz bieten und mittlerweile zu einem echten Volkssport geworden sind. Schulmeisterschaften im Drachenboot finden hier alljährlich statt, außerdem der Drachenboot-Cup für interessierte Volkssport-Teams und der Medi-Cup für Teams aus den medizinischen Einrichtungen der Region.
In den letzten Jahren wurde der HKC 54 e.V. auch zur Heimstatt von Menschen mit geistigen und/oder körperlichen Behinderungen. Durch Eigenleistung seiner Mitglieder wurde die Anlage behindertengerecht und barrierefrei umgebaut. Ab 2012 erfolgte die Sanierung der Steg- und Uferanlagen – gefördert durch das Land Sachsen-Anhalt, Lotto/Toto und Eigenanteile des Vereins. Anerkennung fand der Verein mit der Ernennung zum Landes- bzw. Bundesleistungsstützpunkt Parakanu im Deutschen Kanu-Verband e.V. bzw. dem Landessportbund Sachsen-Anhalt. Ein wichtiger Bestandteil der Trainingsarbeit ist die Vorbereitung von Sportlern auf die Paralympic Games 2016 in Rio de Janeiro. Wir haben uns das Ziel gesetzt, mindestens ein Boot für Olympia zu qualifizieren.
Außerdem finden sich die Triathleten vom SV Halle am See zum Schwimmtraining ein und veranstalten hier Wettkämpfe. Feldbogenschützen nutzen das Gelände und dessen Umgebung als Trainingsstätte.
Von den vielen Kanuten, die am Osendorfer See das Paddelhandwerk erlernt hatten und später für die Nationalmannschaft der DDR bzw. der BRD erfolgreich starteten, seien hier nur jene erwähnt, die bei Olympischen Spielen oder bei Welt- bzw. Europameisterschaften Gold-Medaillen erringen konnten. Es sind dies Klaus Heinroth, Andreas Stähle, Ines Rudolph, Christian Prange, Wiebke Pontzen und Conny Waßmuth. Andreas Stähle wurde 1983, 1985 und 1986 Weltmeister im KI 1000m. 1990 holte er in der gleichen Disziplin Silber. 1988 errang er Silber im KIV.
Ines Rudolph wurde 1986 DDR-Meister im KIV und 1987 Weltmeister im KIV
Klaus Heinroth wurde 1967 und 1968 3. bei den DDR-Meisterschaften im KI 1000m und 1969 2. im KI 500m. 1968 wurde er im KII 1000m 8. bei Olympischen Spielen in Mexiko.
Conny Waßmuth wurde in Peking 2008 im K4 über 500m Olympiasieger.
Da die Stadt Halle nach der Wende nicht in den ,Genuss‘ eines förderwürdigen Olympiastützpunktes für diese Sportart kam, werden auch weiterhin talentierte Nachwuchskanuten zu solchen in Magdeburg, Leipzig oder Potsdam delegiert. Doch auch von Halle aus treten Sportler zu internationalen Wettkämpfen an. Goldmedaillen bei deutschen Titelkämpfen, bei Welt- und Europameisterschaften im Drachenboot-Sport konnte die Jugendmannschaft unter dem Namen „Kanu-Tigers“ erringen. Aus dem Nachwuchsbereich des HKC (im Alter von 8bis 14 Jahren) erringen alljährlich junge Athleten Medaillen bei Landesmeisterschaften und werden auf Grund ihrer Erfolge in Landesmannschaften im Kanu-Rennsport eingesetzt. Ehemalige Rennkanuten haben im Seniorenbereich des Vereins eine Heimstätte gefunden und können hier ebenfalls auf internationale Erfolge verweisen. Goldmedaillen bei European bzw. World Master Games gewannen Elke Bergmann, Petra Kunitzsch, Helga Freund, Ina Fülle, Irene Zappe, Hans-Joachim Kertscher, Hans-Jörg Bliesener und Falko Döbel.
Die letzte Großveranstaltung auf dem See fand Anfang Juni 2013 statt. Es handelte sich um das zweite bundesweite Wassersport-Schnuppercamp des Deutschen Rollstuhl-Sportverbandes e.V., das vom 31. Mai bis 2. Juni 2013 in Halle durchgeführt wurde. 60 Wassersportinteressierte aus vielen Regionen Deutschlands fanden sich hier ein und absolvierten ein erlebnisreiches Programm. Möglicherweise trug der Titel der Veranstaltung ein böses Omen in sich. Am 2. Juni nämlich begann der Regen und mit ihm kam die Flut. Der nach dem Verlauf von zwei Flutwellen der Jahre 2010/11 oberhalb des Sees errichtete Schutzdamm hielt der Flut vom Juni 2013 nur etwa 4 Stunden stand, dann wurde er weggespült. Das Wasser konnte sich ungehindert über einen Abhang in den See ergießen. Der Wasserspiegel des Sees stieg in kurzer Zeit um über 5 Meter. Der Flut fielen die Regattastrecke und sämtliche bauliche Anlagen im Uferbereich des Sees, einschließlich der Pumpenanlage, zum Opfer. Die Kanuten des HKC 54 e.V. standen vor einem Fiasko. Sie fanden eine einstweilige bescheidene Unterkunft am Hufeisensee, die ein systematisches Training nur bedingt zulässt. Eine Rückkehr an den Osendorfer See, der mittlerweile abgepumpt wird, ist vor 2016 nicht zu erwarten. Sie können ihren 60. Gründungstag nicht am heimischen Gewässer feiern, sind aber zuversichtlich, dass sie zumindest den 70. am Gestade des Osendorfer Sees begehen werden.
Autor:
Prof. Dr. Hans-Joachim Kertscher, Präsident Hallescher Kanu-Club 54 e.V.